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18.09.2020 Parking Day Jena

    Parking DayAktionstag für eine autofreie Innenstadt in Jena

    Rückblick und Beitrag zur Diskussion durch die Veranstaltenden

    Am 18.09.2020 fand der internationale Parking Day statt. Weltweit gingen an diesem Tag Menschen auf die Straßen, um auf die ungerechte Raumverteilung in Innenstädten aufmerksam zu machen. Straßenraum wurde kurzfristig umgewidmet. Auf kreative Weise wurde gezeigt, wie öffentlicher Raum anders genutzt werden kann, als durch das Befahren oder Abstellen von Autos. Dies geschah auch in Jena. Hier schlossen sich über zehn Jenaer Umweltinitiativen und weitere Beteiligte zu einem „Aktionsbündnis Autofreie Innenstadt“ zusammen. Ein halbes Jahr lang trafen sie sich wöchentlich online, um den Parking Day in Jena vorzubereiten und zu planen. Das Ergebnis war eine mehrstündige Demonstration auf einem Abschnitt des Leutragrabens.

    Auf jeweils Flächen in der Größe eines Parkplatzes wurden verschiedene Workshops und Informationen angeboten, Kinderspielplätze aufgebaut, kostenlose Verpflegung bereitgestellt, Geräte wurden repariert und Fahrräder codiert, es traten Künstler*innen auf u.v.m. Statt des von manchen befürchteten Verkehrschaos herrschte eine angenehme, freundliche Stimmung, die von Passierenden genutzt wurde, um in der Innenstadt zu verweilen. Sie nahmen die verschiedenen Angebote wahr und erfuhren dabei selbst das Anliegen der Veranstaltung, indem sie erlebten, wie der öffentliche Raum in einer Weise verteilt werden kann, von der alle profitieren. Wie zu erwarten war, hat der Aktionstag allerdings eine breite Debatte ausgelöst. Uns ist es nun ein Anliegen, an dieser teilzunehmen.

    Der hohe Wert der Versammlungsfreiheit

    Zunächst möchten wir auf die hohe Stellung des Rechts, sich friedlich zu versammeln, hinweisen. Als Grundrecht, das es ermöglicht, sich auch abseits der Wahlen politisch zu engagieren, nimmt es eine zentrale, die Demokratie konstituierende Rolle innerhalb unserer Verfassung ein. Auf dieser Grundlage ist es möglich, für einen Tag auf einer Straße der Jenaer Innenstadt eine Demonstration zu veranstalten. Zumal diese Straße bereits zu anderen Begebenheiten gesperrt worden ist, die nicht dem hohen Schutz des Versammlungsrechts unterlagen – und auch dabei kam es nie zu einem Verkehrskollaps oder dem massenhaften Sterben der Innenstadt (s. OTZ v. 18.9.2020, „Der Streit um eine Mobilitätswende nimmt an Schärfe zu“).

    Seit Jahren engagieren sich in Jena Umweltinitiativen, die im Bündnis Autofreie Innenstadt vertreten sind, ehrenamtlich und üben ihre demokratischen Teilhaberechte aus, um eine gemeinverträgliche Verkehrspolitik aktiv mitzugestalten. In vielen Redebeiträgen auf der Versammlung verdeutlichten wir unsere konkreten Forderungen zur Gestaltung einer gemeinverträglichen Verkehrswende. Aus Gründen, die so zahlreich sind, dass sie in diesem Beitrag nicht vollständig dargestellt werden können, setzen wir uns für eine autofreie Innenstadt ein.

    Die ungleiche Verteilung von Raum und Finanzen

    Beispielhaft sei hier zunächst die ungleiche Raumverteilung genannt. In Berlin, wo entsprechende Daten verfügbar sind, wird z.B. dem motorisierten Individualverkehr 58 % der Verkehrsfläche zugesprochen, Radfahrende erhalten nur 3 % (https://www.boell.de/de/2018/11/30/mobilitaet-gerecht-gestalten). Ein Auto, das mit 1,4 Personen besetzt ist – in Jena sind es 1,3 Personen (TU Dresden, Tabellenbericht zum Forschungsprojekt „Mobilität in Städten – SrV 2018“ in Jena, Tab. 1.2) –, hat bereits im Stehen einen Flächenverbrauch von 13,5 qm pro Person. Damit wird einem parkenden Pkw eine größere Fläche zugesprochen, als so manchem Kinder- oder Schlafzimmer. Bei höheren Geschwindigkeiten steigt der Flächenverbrauch immens. Ein Bus, der zu 20 % besetzt ist, hat dabei im Stehen einen Flächenverbrauch von 2,5 qm pro Person. Bei einer Straßenbahn sind es 2,8 qm, bei einem Fahrrad 1,2 qm (https://www.zukunft-mobilitaet.net/78246/analyse/flaechenbedarf-pkw-fah…).

    Weiterhin werden Millionenbeträge in den überdimensionierten Ausbau von Straßen (allein für den Bau der Osttangente fallen 21 Mio. € an; https://vorhaben.jena.de/de/883389) oder die Installation von Parkleitsystemen gesteckt, die vorher niemand vermisst hatte. Dadurch werden neue Anreize für die Nutzung von Pkw geschaffen, anstatt einen sozialen, inklusiven und gerechten Verkehr zu gestalten. Dabei hat der motorisierte Individualverkehr nur ca. zu einem Drittel (34,3 %) Anteil am Verkehrsaufkommen in Jena. 35,3 % aller Wege in Jena werden zu Fuß zurückgelegt, 15,1 % mit dem Rad und 15,3 % mit öffentlichen Verkehrsmitteln (TU Dresden, Tabellenbericht zum Forschungsprojekt „Mobilität in Städten – SrV 2018“ in Jena, Tab. 5.3). Daran, dass ein Betrag, der auch nur ansatzweise in Relation zu dem tatsächlichen Anteil des jeweiligen Verkehrsmittels am gesamten Verkehrsaufkommen steht, in den Ausbau der Infrastruktur für bspw. Fahrradfahrende investiert wird, ist nicht zu denken. Wie viele Radwege könnten etwa mit 10 Mio. € gebaut werden?

    Soziale Ungleichheit und fehlende Integration

    Frappierend ist auch, dass Menschen, die einen sehr niedrigen ökonomischen Status haben, in Jena zu 60,5 % keinen Zugang zu einem Pkw haben. Bei Menschen mit hohem ökonomischen Status liegt dieser Wert nur bei 21,5 % (Ebd., Tab. 3.3.8). Entsprechend fällt die Verkehrsmittelwahl bei Menschen mit einem sehr niedrigen ökonomischen Status nur zu 16,9 % auf den motorisierten Individualverkehr, während dieser bei Menschen mit einem hohen ökonomischen Status bei 40,4 % liegt (Ebd., Tab. 5.8). Um auch Menschen mit einem niedrigen ökonomischen Status Zugang zur Mobilität zu gewähren, ist es also erforderlich, den öffentlichen Nahverkehr zu vergünstigen oder gar kostenlos zur Verfügung zu stellen. Nicht zu vernachlässigen sind auch Gesellschaftsgruppen, die aufgrund ihres Alters oder körperlicher Beeinträchtigungen vom motorisierten Individualverkehr ausgeschlossen sind.

    Die Verkehrstoten aufgrund mangelnder Infrastruktur Außerdem sterben jeden Tag in Deutschland ca. 10 Personen bei Verkehrsunfällen. Das Fahrrad ist mittlerweile das tödlichste Verkehrsmittel. Bei 75 % aller Fahrradunfälle sind Pkw die Unfallgegner. Hier sind Fahrradfahrende nur zu 23,4 % die Hauptverursacher des Unfalls, während in 76,6 % der Fälle die Autofahrenden die Hauptschuld tragen (Statistisches Bundesamt, Kraftrad- und Fahrradunfälle im Straßenverkehr 2019, S. 8; Stern v. 10.7.19, „Das Fahrrad ist das tödlichste Verkehrsmittel“, https://www.stern.de/auto/news/unfallzahlen—das-fahrrad-ist-das-toedlichste-verkehrsmittel-8793654.html; ADFC Pressemitteilung Nr. 20/19, 9. Juli 2019). Diese Tode können ganz einfach durch den Bau von Radwegen und der Verbesserung der Infrastruktur für Radfahrende verhindert werden. Dies würde auch die Unfallgefahr für Fußgänger*innen erheblich senken, da sich diese nicht mehr den Weg mit Radfahrenden teilen müssten.

    Die höchsten externen Kosten entstehen durch das Autofahren

    Weiterhin wird die Gesundheit von Menschen und anderen Lebewesen durch Lärm und Abgase gefährdet. Dies führt auch zu Schäden in Forst- und Landwirtschaft. Andererseits führt die Zerschneidung von Lebensräumen durch Straßen zu Biodiversitätsverlusten. Über Monetarisierungsansätze können versteckte „externe Kosten“, die durch Mobilität verursacht werden, sichtbar gemacht werden. Dabei zeigt sich, dass durch das Autofahren die höchsten externen Kosten im Verkehrssektor verursacht werden: In Deutschland entstehen im Verkehrssektor jährlich schätzungsweise 149 Mrd. € an externen Kosten. Davon werden 94,5 % allein durch den Straßenverkehr verursacht (Allianz pro Schiene, Externe Kosten des Verkehrs in Deutschland, 2017, S. 5 u. 19). Diese Kosten müssen wiederum von der gesamten Gesellschaft getragen werden.

    Die körperliche Betätigung im Langsamverkehr (Fahrradfahrende und Fußgänger*innen) stellt in der Summe hingegen sogar einen externen Nutzen für die Gesellschaft dar, da gesündere Menschen das Gesundheitssystem weniger belasten (Bundesamt für Raumentwicklung ARE, Broschüre „Externe Kosten und Nutzen des Verkehrs in der Schweiz“, 2017, S. 8).

    Jena verfehlt die eigenen Klimaschutzziele im Verkehrssektor

    Ein weiterer externer Kostenfaktor entsteht durch den Treibhausgasausstoß der Verkehrsbranche, der in Deutschland im Wesentlichen seit Jahren trotz effizienterer Technik auf konstantem Level geblieben ist (Agora Verkehrswende, Mit der Verkehrswende die Mobilität von morgen sichern, 2017). Um den Klimawandel zu verhindern und die Ziele einzuhalten, zu denen sich Deutschland 2015 im Pariser Abkommen verpflichtet hat, ist also eine Verkehrswende erforderlich. Die Folgen des weiteren Verschleppens der Umstellung auf Klimaneutralität sind bekanntermaßen dramatisch. Beispielsweise wird der Klimawandel laut Studien des „Institute for Economics & Peace“ bis 2050 bis zu 143 Mio. zusätzliche Migrant*innen hervorbringen. (Institute for Economic & Peace, Ecological Threat Register 2020, S. 4) Bis 2040 werden insgesamt 5,4 Mrd. Menschen, oder mehr als die Hälfte der voraussichtlichen Weltbevölkerung, in Ländern leben, die unter hohem oder extremem Wasserstress leiden (Institute for Economic & Peace, Global Risk Report 2020, S. 4).

    Auch Jena verfehlt die selbst gesteckten Klimaschutzziele im Verkehr. So wird etwa der tendenziell sinkende Kraftstoffverbrauch pro km durch die nach wie vor steigenden Zulassungszahlen in der Stadt Jena überkompensiert (ThINK, Kurzbericht zur Umsetzung des Leitbildes Energie und Klimaschutz und des Energiekonzeptes der Stadt Jena 2019, S. 31).

    Eine autofreie Innenstadt ist laut Studien ein positiver Faktor für die Innenstadt

    Des Weiteren möchten wir betonen, dass wir immer zu Gesprächen bereit waren, sind und sein werden. Wir haben ein Gespräch mit der Ortsteilbürgermeisterin der Innenstadt vor der Durchführung der Demonstration geführt. Wir haben uns in einem Kooperationstreffen mit der Stadtverwaltung darauf geeinigt, auf einen Teil des angemeldeten Kundgebungsort zu verzichten, um einen reibungslosen Ablauf des öffentlichen Nahverkehrs zu ermöglichen. Und wir haben in unseren Treffen die Sorgen der Initiative Innenstadt diskutiert. Allerdings haben wir uns schließlich dafür entschieden, die Demonstration auf diese Weise durchzuführen, da wir durch andere Aktivitäten und Protestformen seit Jahren für das Anliegen eintreten, ohne dass die erforderlichen Konsequenzen seitens der Stadt auch nur ansatzweise gezogen wurden. Dennoch sind wir nicht der Meinung, dass wir die Projektionsfläche des Zorns der Initiative Innenstadt sein sollten. Der Einzelhandel wird nicht von Umweltschützenden in seiner Grundlage bedroht, sondern vom Versandhandel. Menschen mit einem ausgeprägten Umweltbewusstsein, die auf ihren ökologischen Fußabdruck achten, bestellen weniger online, sondern unterstützen lokale Geschäfte („Think global, act local!“). Außerdem ist einer der Vorteile, die der Einzelhandel gegenüber dem Versand genießt, eine angenehme Atmosphäre in der Stadt, die zum Verweilen einlädt. Diese Atmosphäre wird nicht durch Asphaltwüsten, gesundheitsschädigendem Lärm und Abgase sowie Verkehrsstress geschaffen. Eine derartige Atmosphäre kann im Rahmen einer autofreien Innenstadt entstehen, die den Bürger*innen ausreichend Lebensraum zur Verfügung stellt. Genau diese Atmosphäre zu erzeugen, war unser Ziel. Entsprechend hoffen wir, dass die Initiative Innenstadt noch erkennen wird, dass wir nicht ihr Feindbild sind.

    Einige Städte haben zudem bereits vorgemacht, dass eine autofreie Innenstadt möglich ist, ohne dass der Einzelhandel davon negativ betroffen ist. Im Gegensteil steigt der Umsatz. Das zeigen Studien aus verschiedenen europäischen Ländern (vgl. El Pais v. 22.1.19, „Die Weihnachtsausgaben stiegen im Zentrum Madrids um 8,6%, verglichen mit 3,3% im Rest der Stadt“, https://elpais.com/ccaa/2019/01/21/madrid/1548096164_793728.html; Handelszeitung v. 15.4.19, Weniger Autos = mehr Umsatz für die Läden im Stadtzentrum“, https://www.handelszeitung.ch/unternehmen/weniger-autos-mehr-umsatz-fur-die-laden-im-stadtzentrum). Im niederländischen Houten berichtet der Sprecher des Einzelhandelsverbandes sogar davon, dass die autofreie Innenstadt Kunden aus dem Umland anlockt (Deutschlandfunk v. 17.11.17, „Die autofreie Modellstadt“, https://www.deutschlandfunkkultur.de/houten-in-den-niederlanden-die-autofreie-modellstadt.976.de.html?dram:article_id=400037).

    Wir leben schließlich in einer Zeit, in der erstmals das Weltwirtschaftsforum, eine Organisation, die keinesfalls unter Verdacht steht, links-grüner Fasson zu sein, in ihrem „Global Risk Report 2020“ als die wahrscheinlichsten Risiken für Wirtschaft und Gesellschaft ausschließlich ökologische Belange nennt. (World Economic Forum, The Global Risks Report 2020, Abbildung I). Somit ist es im selbsterklärten Sinne der Wirtschaft, einen ökologischen Wandel zu vollziehen. Dies beinhaltet einen gemeinverträglichen Verkehr, der in Jenas Innenstadt allerdings noch immer aufgrund ungebrochener Dominanz des Pkw fehlt.

    Ausblick bei Weitblick

    Natürlich ist uns bewusst, dass Konzepte erforderlich sind, wie eine inklusive, gemeinverträgliche und soziale Verkehrswende gestaltet werden kann. Für Menschen mit Beeinträchtigung, die auf ihren PKW angewiesen sind und für Lieferantenverkehr wären z.B. Ausnahmen erforderlich. Für den Lieferantenverkehr wäre auch eine Sammellogistik außerhalb der Stadt denkbar, von der aus Waren gebündelt nach Jena transportiert werden können. All diese Konzepte bestehen bereits.

    Wir zielen mit unseren Forderungen auf ein Konzept ab, wie es beispielsweise vom Runden Tisch für Klima und Umwelt Jena, der über den Beirat für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung Anträge in den Stadtrat einbringen kann, und in der Petition „Verkehrswende in Jena!“ (https://www.openpetition.de/petition/online/verkehrswende-in-jena-fuer-klimaschutz-und-lebensqualitaet-in-unserer-stadt) von Fridays for Future Jena ausgearbeitet worden ist. Und wer sich einmal in einer Innenstadt aufgehalten hat, die für den motorisierten Individualverkehr geschlossen war – und sei es auch nur für einen Tag im Monat, wie beim autofreien Sonntag in Brüssel –, wer erlebt hat, wie die Menschen sich dort auf den weiten Flächen begegnen können, miteinander in Austausch geraten und zusammen die zurückgewonnene Freiheit und Lebensqualität feiern, wird dieses Glücksgefühl niemals vergessen.

    Aktionsbündnis autofreie Innenstadt Jena, 30.10.2020